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Direktionsrecht

Zivilrecht BAG Urteil vom 24.05.1989 (2 AZR 285/88)

Fundstelle: BB 1990, 212
Normen: BGB §§ 315 Abs. 1, 297, 611

Leitsätze:

1. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, im Rahmen des billigen Ermessens nach § 315 Abs. 1 BGB, der voraussetzt, daß der Inhalt der geschuldeten Leistung noch zu konkretisieren ist, habe der Arbeitgeber einen ihm offenbarten Gewissenskonflikt des Arbeitnehmers zu berücksichtigen
(Bestätigung von BAGE 47 S. 363 = AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht).

2. Maßgebend ist der sogenannte subjektive Gewissensbegriff. Dieser setzt voraus, daß der Arbeitnehmer darlegt, ihm sei wegen einer aus einer spezifischen Sachlage folgenden Gewissensnot heraus nicht zuzumuten, die an sich vertraglich geschuldete Leistung zu erbringen. Läßt sich aus den festgestellten Tatsachen im konkreten Fall ein Gewissenskonflikt ableiten, so unterliegt die Relevanz und Gewichtigkeit der Gewissensbildung keiner gerichtlichen Kontrolle.

3. Verbietet eine nach § 315 Abs. 1 BGB im Rahmen des billigen Ermessens erhebliche Gewissensentscheidung dem Arbeitgeber, dem Arbeitnehmer eine an sich geschuldete Arbeit zuzuweisen, so kann ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund gegeben sein, das Arbeitsverhältnis zu kündigen, wenn eine andere Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer nicht besteht.

4. Die Gewissensentscheidung des Arbeitnehmers schränkt die unternehmerische Freiheit, den Inhalt der Produktion zu bestimmen, nicht ein. Der Arbeitnehmer ist vielmehr nach § 297 BGB außerstande, die geschuldete Leistung zu erbringen.

Tatbestand:

Der Kläger, ein Arzt, war bei der Beklagten, einem international tätigen Pharma-Unternehmen, beschäftigt. Anfang 1987 begann die Beklagte mit der Erforschung eines Produkts, welches geeignet ist, Brechreiz zu unterdrücken. Dazu hieß es in einem internen Firmenvermerk, daß sich das Marktpotential für eine derartige Substanz erheblich erhöhen würde, falls sich die Strahlenkrankheit - entweder hervorgerufen durch die Strahlenbehandlung bei Krebs oder als mögliche Folge eines Atomkrieges - als behandelbar oder verhütbar erweisen sollte. Nach mehreren Gesprächen mit der Beklagten lehnte der Kläger seine Mitwirkung im Rahmen dieses Forschungsprojektes ab und berief sich dabei auf eine Gewissensentscheidung. Er macht geltend, zum Zeitpunkt seiner Einstellung habe er nicht mit einem solchen Einsatz rechnen müssen. Daß seine Tätigkeit als Arzt im Zusammenhang mit einer geplanten Verwendung der Substanz im Nuklearkriegsfall gebracht werde, könne er als Mediziner nicht zulassen. Daraufhin wurde das Arbeitsverhältnis von der Beklagten ordentlich gekündigt. Die darauf folgende Klage wurde vom Arbeits- und Landesarbeitsgericht abgewiesen.

Entscheidungsgründe:

"...Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuweisen . . .

B. I. Nach den vom Landesarbeitsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen war der Kläger bei zutreffender rechtlicher Würdigung durch einen in seiner Person liegenden Grund gehindert, die ihm von der Beklagten zugewiesene Arbeit zu verrichten. Die Kündigung der Beklagten ist daher nur dann nicht sozialwidrig, wenn eine andere Beschäftigungsmöglichkeit nicht bestand, was vom Landesarbeitsgericht nicht überprüft worden ist.

1. Die Weigerung eines Arbeitnehmers, die vertraglich geschuldete Leistung zu erbringen, ist, nach entsprechender Abmahnung, an sich regelmäßig geeignet, eine ordentliche Kündigung sozial zu rechtfertigen (BAGE 47 S. 363, 371 = AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht; KR-Becker, 3. Aufl., § 1 KSchG, Rz. 250). Der bisher festgestellte Sachverhalt trägt aber nicht die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, der Kläger sei nach Aufforderung durch die Beklagte zur Mitarbeit an dem Projekt BRL 43694 nach der objektiven Rechtslage verpflichtet gewesen.

a) Zwar gehört die Mitarbeit an diesem Projekt in der Form der Supervision zu den Aufgaben des Klägers als Leiter der Human-Pharmakologie. Werden die Leistungspflichten eines Arbeitnehmers in einem Arbeitsvertrag nur rahmenmäßig umschrieben, wie dies vorliegend der Fall war, so ist der Arbeitnehmer regelmäßig verpflichtet, den sich innerhalb dieses Rahmens haltenden Weisungen des Arbeitgebers Folge zu leisten. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ergab sich jedoch eine Einschränkung des Direktionsrechts der Beklagten aus § 315 BGB in Verb. mit Art. 4 GG, denn der Kläger hat der Beklagten einen Gewissenskonflikt offenbart und unter Berufung darauf seine Leistung im Rahmen des Projektes abgelehnt.

b) Aufgrund seines Weisungsrechtes kann der Arbeitgeber einseitig die im Arbeitsvertrag nur rahmenmäßig umschriebene Leistungspflicht des Arbeitnehmers nach Zeit, Ort und Art der Leistung bestimmen. Das Weisungsrecht, das seine Grenzen in Vorschriften der Gesetze, des Kollektiv- und des Einzelarbeitsvertragsrechts findet, darf gemäß § 315 Abs. 1 BGB nur nach billigem Ermessen ausgeübt werden (BAGE 33 S. 71 = AP Nr. 26 zu § 611 BGB Direktionsrecht). Die § 315 BGB geforderte Billigkeit wird inhaltlich auch durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit bestimmt (BAGE 47 S. 363, 375 = AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht; Söllner, Grundriß des Arbeitsrechts, 8. Aufl.. S. 33. insbesondere Fußn. 32; derselbe, Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsverhältnis, 1966, S. 134). Eine solche vom Arbeitgeber zu berücksichtigende Gewissensentscheidung hatte der KIäger der Beklagten mitgeteilt . . .

2. Das Landesarbeitsgericht hat vorliegend schon den Begriff der Gewissensentscheidung verkannt.

a) Der Senat ist bereits in seiner Entscheidung vom 20. Dezember 1984 (BAGE 47 S. 363, 376 = AP, a.a.0.) von einem subjektiven Gewissensbegriff ausgegangen. Er hat dazu geführt, Gewissen i. S. des allgemeinen Sprachgebrauchs und des Art. 4 GG sei als ein real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens seien. Als eine Gewissensentscheidung sei jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von Gut' und ,Böse' orientierte Entscheidung anzusehen. die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfahre, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könne. (BVerfGE 12 S. 45, 54 f.) Das Gewissen könne durch äußere Einflüsse geweckt und veranlaßt werden, zu einem bestimmten Ereignis Stellung zu beziehen und nach innerer Prüfung eine Entscheidung zu treffen. Die von außen kommenden Anregungen könnten verschiedener Art sein. Sie könnten nicht bloß aus religiösen oder ethischen Vorstellungen kommen, vielmehr auch in gefühlsmäßigen Erwägungen, in weltanschaulichen Grundsätzen oder politischen Überzeugungen wurzeln . . .

b) . . . bb) Die Besorgnis, durch die Anwendung des subjektiven Gewissensbegriffes werde die Rechtsordnung gefährdet, ist nicht berechtigt. Wenn auch durch die Tatsache, daß es sich bei einer Gewissensentscheidung um einen rein inneren Vorgang handelt, die Überprüfbarkeit eingeschränkt wird (so bereits BVerfGE 12 S. 45, 55; BAGE 47 S. 363, 376), so sind die Gerichte keineswegs gezwungen, jede nur behauptete Gewissensentscheidung hinzunehmen. Der Arbeitnehmer muß seine Entscheidung im einzelnen darlegen und erläutern. Es muß hierbei erkennbar sein, daß es sich um eine nach außen tretende, rational mitteilbare und intersubjektiv nachvollziehbare Tiefe, Ernsthaftigkeit und absolute Verbindlichkeit einer Selbstbestimmung handelt (BVerwG, Urteil vom 3. Februar 1988 - 6 C 3/86, NVwZ 1989 S. 60; Gutachten Denninger, S. 15).

cc) Die Relevanz einer auf Tatsachen gestützten inneren Gewissensentscheidung unterliegt nicht der gerichtlichen Überprüfung. Ihre Bewertung anhand von Kriterien wie irrig', ,falsch' oder ,richtig' wäre als verfassungswidrig anzusehen, woraus auch die Unzulässigkeit einer Qualifizierung als beachtlich' oder unbeachtlich' folgt (so zutreffend Gutachten Denninger, S. 15; BVerfGE 12 S. 45, 56).

dd) Ebenso geht es rechtlich nicht an, die Gewissensentscheidung nach objektiven Kriterien eingrenzen zu wollen . . .

ee) Ebenso kann die Gewichtigkeit der persönlichen Gewissensentscheidung nicht objektiviert und gemessen werden an der Ansicht ,außenstehender Dritter' oder an einer angeblich allgemeinen Ansicht'. Hinge die Qualifizierung von einem neutralen' Schiedsrichter ab, wäre der verfassungsrechtlich geschützte Gewissensbegriff entleert und einer Fremdbestimmung durch sich gerade nicht in Gewissensnot befindliche Beurteiler unterworfen (so zutreffend Gutachten Denninger, S. 33 ff.).

ff) Eine objektive Einschränkung der Gewissensentscheidung ist auch praktisch nicht notwendig, um zu einem interessengerechten Ausgleich zwischen Gewissensfreiheit einerseits und Vertragstreue andererseits zu gelangen. Sie der Senat bereits in der Entscheidung vom 20. Dezember 1984 (a.a.O. 375 und unter Ziff. B I 1 b weiter ausgeführt hat, ist das billige Ermessen im Sinne von § 315 BGB unter Abwägung der Interessenlage beider Vertragsparteien festzustellen, wobei es letztlich eine Frage des Einzelfalles ist, ob die Zuweisung einer Tätigkeit, die den Arbeitnehmer in Gewissenskonflikt bringt, nicht der Billigkeit des § 315 BGB entspricht und der Arbeitnehmer daher nicht verpflichtet ist, diese Tätigkeit auszuüben. Damit wird nicht die subjektive, auf objektiv vorliegende und insoweit vom Gericht überprüfbare Tatsachen gestützte Gewissensentscheidung einer richterlichen Kontrolle unterzogen. Es wird vielmehr im Rahmen einer Interessenabwägung nur geprüft, ob der Arbeitnehmer trotz eines in seiner Person liegenden Hinderungsgrundes die Arbeit überhaupt weiter zu verrichten oder wegen ganz besonderer Umstände kurzfristig zu erbringen hat. So ist es von Bedeutung, ob der Arbeitnehmer schon bei Vertragsschluß damit rechnen mußte, daß ihm eine derartige Tätigkeit zugewiesen werden könnte (vgl. Krüger, RdA 1954 S. 365. 373; Söllner, a.a.0.; Seheschonka, Arbeits- und Leistungsverweigerung aus Glaubens- und Gewissensnot, Diss. Hamburg 1972, S. 119). Diese Begrenzung des Direktionsrechtes durch die berechtigte Berufung auf eine Gewissensnot führt auch nicht unter Einschränkung der unternehmerischen Freiheit hinsichtlich der Bestimmung der Produktion zu einer gesetzwidrigen Erweiterung des Bestandsschutzes und zu einer einseitigen Belastung des Arbeitgebers mit dem Beschäftigungsrisiko. Wenn Arbeitnehmer, deren Einsatzmöglichkeit durch eine von ihnen getroffene Gewissensentscheidung eingeschränkt ist, nicht im Rahmen der vereinbarten oder geänderten Arbeitsbedingungen anderweitig beschäftigt werden können, ist an sich ein in ihrer Person liegender Grund gegeben, der jedenfalls nach § 1 Abs. 2 KSchG eine ordentliche Kündigung rechtfertigen kann. Wenn ein anderer Einsatz nicht möglich ist, gerät der Arbeitgeber auch nicht nach § 615 BGB in Annahmeverzug . . .

3. Bei Anwendung dieser Grundsätze hätte das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis kommen müssen, der Kläger habe eine rechtlich-relevante Gewissensentscheidung getroffen.

a) Das angefochtene Urteil geht selbst davon aus, der Kläger habe die Arbeiten aus Gewissensgründen abgelehnt. Da sich die danach vom Berufungsgericht formulierten objektiven Anforderungen an eine Gewissensentscheidung als unzutreffend erweisen, hat die Entscheidung insoweit keinen Bestand.
b) Der Kläger hat seine Gewissensentscheidung auch durch Tatsachen überprüfbar dargelegt. Ein Mittel, das die Symptome der Strahlenkrankheit zeitweise unterdrücken kann, ist seiner Meinung nach geeignet, die Einschätzung hinsichtlich der Führbarkeit eines Atomkrieges positiv zu beeinflussen. Der Kläger hat auch nicht - wie das Arbeitsgericht angenommen hat - die Entwicklung sämtlicher Medikamente abgelehnt, die auch im Kriegsfall an Soldaten verabreicht werden könnten. Die streitige Substanz bekämpft vielmehr eine Indikation, die bei einer nuklearen Auseinandersetzung mit Sicherheit massenweise auftreten würde.
c) Auf die Motivation der Beklagten bei der Entwicklung der Substanz kommt es nicht an. Der Kläger hat nämlich klargestellt, nicht die Zweckbestimmung, sondern die objektive Verwertbarkeit des Medikamentes im Kriegsfall löse seinen Gewissenskonflikt aus. Diese objektive Verwertbarkeit ist zwischen den Parteien aber unstreitig.
d) Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts war der vorliegende Gewissenskonflikt für den Kläger nicht vorhersehbar. Der Kläger mußte zwar in einem Pharmakonzern mit einer Beteiligung an der Entwicklung von Medikamenten rechnen, die im Kriegsfall auch an Soldaten verabreicht werden. Hierin liegt aber, wie bereits dargelegt, nicht sein Gewissenskonflikt. Der Kläger hat seine Mitarbeit an der Substanz BRL 43694 vielmehr deshalb verweigert, weil die Substanz eine Indikation bekämpft, die gerade im Falle atomarer Verstrahlung massenhaft vorkommen würde . . .
f) Aus dem Inhalt der Gewissensentscheidung ergibt sich auch, daß die Beklagte mit weiteren vergleichbaren Konflikten nach Abschluß des Projektes BRL 43694 nicht rechnen mußte . . .

4. Entscheidungserheblich für die Frage der Sozialwidrigkeit der Kündigung ist somit, ob die Beklagte außerstande war, den Kläger anderweitig zu beschäftigen. Die Parteien haben insoweit substantiiert widersprechende Tatsachen vorgetragen, denen das Berufungsgericht. vorbehaltlich Ziff. 5. nachzugehen haben wird . . ."